【明鏡週刊】Love Is in the Air - doch sie hat es schwer
【明鏡週刊】Love Is in the Air - doch sie hat es schwer
【2020年2月15日 明鏡週刊/Ausland/Global Gesellschaft】
Als erstes Land in Asien hat Taiwan 2019 die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt. Aber die gesellschaftliche Debatte darüber kommt nicht zur Ruhe – auch wegen gezielter Falschinformationen.
Aus Taipeh berichtet Georg Fahrion
Nathan Ye (l.), 46, und Tim Chang, 55, sind seit 13 Jahren ein Paar Foto: Yen-Yin Chen/ DER SPIEGEL
Bevor Tim Chang von der Liebe erzählen kann, kommt erst einmal der Schmerz. Er habe seinen Freund heiraten wollen, weil dieser schwer krank gewesen sei, setzt der 55-Jährige an. Dann bricht seine Stimme. Nathan Yeh versteht, was da gerade passiert; mit zärtlicher Geste reicht er ihm seinen Longdrink, "nimm einen großen Schluck". Chang trinkt und fängt trotzdem zu schluchzen an, verbirgt sein Gesicht in den Händen.
Eine lange Minute herrscht berührtes Schweigen am Tisch in dem Rippchen-Restaurant in Taiwans Hauptstadt Taipeh, wo das Ehepaar seine Geschichte erzählt. Als sich Chang fängt, sagt er, er habe den Gedanken einfach nicht ertragen, keine medizinischen Entscheidungen für seinen Partner treffen zu dürfen. "Deshalb wollte ich das Versprechen liebend gern geben. Ich wollte die Verantwortung." Yeh, der heute wieder gesund ist, lächelt und sagt: "Er wollte sich um mich kümmern."
Wer immer noch die Frage stellt, wieso Homosexuelle heiraten dürfen sollten, hat damit eine von vielen plausiblen Antworten. Chang und Yeh haben im August Ja gesagt, wenige Monate nachdem Taiwan die gleichgeschlechtliche Ehe ins Gesetz aufgenommen hat. Als erstes und bisher einziges Land in Asien, ein Kontinent, auf dem traditionelle Familienkonzepte vorherrschen. Dem Gesetz war ein Urteil des Obersten Gerichtshofs vorausgegangen, wonach es gegen die Verfassung verstoße, die Ehe ausschließlich als Verbindung einer Frau und eines Mannes zu definieren.
Teilnehmer einer Gay-Pride-Parade in Taiwans Hauptstadt Taipeh im Oktober 2019 Foto: SAM YEH/ AFP
Damit hätte die Debatte ein Ende finden können, wie es etwa in Deutschland der Fall war, nachdem die Entscheidung einmal feststand. Doch in Taiwan kühlt sie nicht ab – im Gegenteil: "Ehe-Gleichberechtigung" war eines der kontroversesten Themen im zurückliegenden Wahlkampf, der am 11. Januar mit der Wiederwahl von Präsidentin Tsai endete. Er hat die Bevölkerung tief polarisiert zurückgelassen. Neben der Haltung zum großen Nachbarn China ist die zur gleichgeschlechtlichen Ehe eine der tiefsten Spaltlinien.
"Ich kenne kein Land in Asien, wo dieses Thema so einen herausgehobenen Stellenwert hat wie in Taiwan", sagt Moritz Kleine-Brockhoff, Leiter des Asienbüros der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung. "Es steht für mehr. Über die gleichgeschlechtliche Ehe wird der Konflikt ausgetragen, in was für einem Land die Taiwaner leben wollen: fortschrittlich oder konservativ?"
Seit Beginn der Demokratisierung ab den späten Achtzigerjahren hat sich Taiwan bereits derart verändert, dass es kaum wiederzuerkennen ist. China erhebt Anspruch auf die Insel, obwohl die Kommunistische Partei sie keinen einzigen Tag beherrscht hat. Nachdem Chinas nationalistische Regierung den Bürgerkrieg gegen die Kommunisten verloren hatte, floh sie 1949 vom Festland dorthin. Unter ihrem Führer Chiang Kai-shek errichtete die Nationale Volkspartei (KMT) dort ihrerseits eine Diktatur. Menschenrechte galten wenig, von LGBT-Rechten war keine Rede.
An diese dunklen Zeiten erinnert sich Tim Chang genau. "Als ich ein Teenager war, galt Homosexualität noch als Geisteskrankheit", sagt er. Als er sich in einen Klassenkameraden verliebte und den Mut fand, ihm das zu gestehen, fiel daraufhin die ganze Schule über den "Homo" her. In den Achtzigerjahren habe er als junger Mann in der Hauptstadt Taipeh die abgelegenen Ecken der Parks besucht, wo Schwule zum Cruisen hingingen, und Bars, die man nur finden konnte, wenn einen jemand mitnahm. Vor Polizeirazzien schützte ihre Diskretion die Community nicht. Händchenhalten in der Öffentlichkeit? Nur im Traum.
Einige der Vorkämpfer für die Gleichberechtigung residieren im zwölften Stock eines gekachelten Hochhauses in Taipeh, von unten klingt das Verkehrsrauschen der Roosevelt Road herauf. Eine Wand des Besprechungsraums ist in Regenbogenfarben gestrichen, die Räume sind zugestellt mit Pappkartons, Bücherregalen, Schreibtischen, Sofas.
Seit sie 1998 als Krisentelefon gegründet wurde, ist die Taiwan Tongzhi Hotline Association extrem gewachsen: Ihr Angebot reicht inzwischen vom HIV-Test bis zur schwulen Seniorengruppe. "Tongzhi" bedeutet "Genosse" – chinesische Kommunisten reden sich so an, in einer ironischen Neuinterpretation des Worts heute auch Lesben und Schwule.
Sean Du ist ein Veteran der LGBT-Bewegung und hat 2003 die erste Taiwan Pride mitorganisiert Foto: Yen-Yin Chen/ DER SPIEGEL
Der Policy-Direktor der NGO, Sean Du, hat es miterlebt, wie die Bewegung in Taiwan aus dem Schatten trat. Als 22-jähriger Freiwilliger half er 2003, die erste Taiwan Pride zu organisieren - mittlerweile die größte LGBT-Parade in Asien. "Als wir sie damals vorbereitet haben, fürchteten wir, dass niemand kommt", sagt Du. Einige Helfer hätten Angst gehabt, fotografiert und geoutet zu werden; also habe man Gesichtsmasken besorgt und sie in Regenbogenfarben angemalt. "Am Ende kamen vielleicht 1000 Leute, aber das übertraf dennoch alles, was wir uns hatten vorstellen können", sagt Du. "Alle waren aufgeregt und stolz. Niemand hat die Masken benutzt."
Von diesem ersten, noch etwas verschüchterten Auftritt Homosexueller auf der nationalen Bühne bis zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe dauerte es nur anderthalb Jahrzehnte – war Taiwan ein Spätzünder in Sachen LGBT-Rechte, hat sich das Land danach beeilt, alles zuvor Versäumte rasch nachzuholen.
Aktivisten haben die Entwicklung vorangetrieben, Verbündete fanden sie in der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) von Präsidentin Tsai. Als ihre Abgeordneten am 17. Mai 2019 der neuen Regelung zustimmten und Tsai #LoveWon twitterte, jubelten Zehntausende in den Straßen vor dem Parlament.
Während das Parlament über das neue Gesetz abstimmte, demonstrierten Tausende auf den Straßen Taipehs für die gleichgeschlechtliche Ehe Foto: Tyrone Siu/ REUTERS
In dem Moment, als die Entscheidung verkündet wurde, hörte der Regen auf und die Sonne trat hervor – so jedenfalls beteuern es Fei Wang und Hurrly Lee, die damals dabei waren. Seit drei Jahren sind die Fotografin und die Marketingexpertin ein Paar, im vergangenen Jahr haben sie geheiratet. Wang trug Anzug, Lee ein weißes Kleid.
In der Hauptstadt Taipeh begegneten sie keiner Diskriminierung mehr, sagt Wang – zumindest nicht in ihrem Alltag. Im vergangenen Wahlkampf aber sei es anders gewesen. "So viele hasserfüllte und lächerliche Vorwürfe, dass man sie nicht zählen kann. Leute behaupten, wir wären schuld daran, dass die Geburtenrate fällt."
Fei Wang (l.), 47, und Hurrly Lee, 33, feierten ihr Hochzeitsfest bereits, bevor die gleichgeschlechtliche Ehe Gesetz wurde – sie hatten nicht länger warten wollen Foto: Yen-Yin Chen/ DER SPIEGEL
Das war noch eine der dezenteren Anfeindungen. Weil LGBT-Rechte so stark mit der Präsidentin und ihrer Partei identifiziert werden, haben deren Gegner das Thema genutzt, um Stimmung gegen sie zu machen. Abgeordnete der oppositionellen KMT kündigten an, das Gesetz im Fall eines Wahlsiegs wieder abzuschaffen.
Vor allem aber wurde Taiwan von einer Welle homophober Fake News überflutet, die die DPP diskreditieren sollten. Die Ehefrau des KMT-Präsidentschaftskandidaten wollte erfahren haben, dass Kinder bereits in der Grundschule über Analsex unterrichtet würden; das DPP-geführte Bildungsministerium wies das zurück.
Über soziale Medien kursierte ein Gerücht, wonach die Präsidentin an einer Pharmafirma beteiligt sei und an einem steigenden Absatz von HIV-Medikamenten zu profitieren hoffe, erzählt Summer Chen, Chefredakteurin des Taiwan FactCheck Center. Es tauchten Plakate auf, die ältere Wähler davor warnten, die DPP zu wählen, denn die gleichgeschlechtliche Ehe laufe auf weniger Enkelkinder hinaus.
Parlamentsdebatte zur gleichgeschlechtlichen Ehe im Mai 2019 Foto: Tyrone Siu/ REUTERS
Laut einer Studie der Universität Göteborg ist Taiwan stärker von Desinformationskampagnen fremder Regierungen betroffen als jedes andere Land. Peking hat Tsai wegen ihrer chinaskeptischen Haltung im Visier. Es gibt viele Hinweise darauf, dass zahlreiche der Falschnachrichten ihren Ursprung auf dem Festland haben.
"Manche Leute glauben jetzt, die gleichgeschlechtliche Ehe bedrohe die Zukunft ihrer Kinder, Taiwan werde zu einer HIV-Insel, und lauter ausländische Homosexuelle würden sich hier einheiraten", sagt Sean Du von der "Taiwan Tongzhi Hotline Association".
Doch die Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe ist in Taiwan nicht zuletzt eine Generationenfrage: Um Wahlkampfhelfer zu rekrutieren, habe die DPP rund 2000 junge Leute interviewt, sagt Parteisprecherin Lee Yen-jong. 90 Prozent davon hätten die gleichgeschlechtliche Ehe als Motivation dafür erwähnt, die DPP zu unterstützen. "Diese Politik hat wirklich verändert, wie junge Leute uns sehen", schließt Lee daraus.
Die Präsidentschaftswahl hat Tsai mit 57 Prozent gewonnen. Doch so deutlich ihr Sieg auch war, hat sie ihn in erster Linie wohl ihrer distanzierten Haltung zu China zu verdanken – die Kontroverse um LGBT-Rechte ist damit nicht befriedet. "Unsere rechtliche Situation hat sich verbessert, aber in sozialer und politischer Hinsicht ist sie jetzt heikle", sagt Du.
Dabei könnte alles so unaufgeregt und normal sein. Seit das Gesetz verabschiedet wurde, sagt Du, hätten mehr als 2600 Paare geheiratet; einige davon hätten sich auch schon wieder scheiden lassen. "So ist das Leben."